Donnerstag, 22. Oktober 2009

Petite Fille Aux Yeux Perdus

Die momentane Situation in Tibet verlangt, dass jeder Ausländer sich einer Reisegruppe anschliessen und, sobald er die Hauptstadt Lhasa verlässt, ein Fahrzeug mieten muss. Nun kann eine Reisegruppe schon aus zwei Personen bestehen, doch am billigsten wird die Tour, wenn man vier Leute zusammen bringt. Zusammen mit dem österreichischen Paar Anna und Daniel haben wir die 43-stündige Zugfahrt von Chengdu in der Provinz Sichuan bis nach Lhasa unternommen. Dies ist die höchstgelegene Zugstrecke der Welt und die Wagons sind mit einer Sauerstoffzufuhr ausgestattet.

In Lhasa verbringen wir vier wunderbare Tage und geniessen jeden Augenblick in der von der tibetischen Kultur geprägten Stadt. Die seit fünfzig Jahre dauernde chinesische Besatzung konnte der Kultur und den Bräuchen nicht viel anhaben und man merkt auch nur an Hand der zahlreichen Militärs, dass Lhasa zu China gehören soll. Mehrmals spazieren wir am wundervollen Potala Palast vorbei und besuchen den ehemaligen Wohnsitz des Dalai Lama auch von innen. Ein Traum wird wahr.

Am fünften Tag fahren wir also mit unserem gemieteten Jeep zum Namtso See. Der Weg dorthin führt uns über einen Pass mit einer stattlichen Höhe von 5190 m.ü.M. und durch kleine Dörfer, sobald man von der Hauptstrasse abkommt. Schon von weither werden wir stets von den Kindern der Dörfer gesichtet und sämtliche Kinder rennen auf unsere Jeep zu. Unser Fahrer bremst, hält aber nicht. Wir fahren vorbei, die Kinder blicken uns enttäuscht nach. Es sind traurige Bilder, die sich uns einprägen.

Im nächsten Dorf, das gleiche Bild. Kinder kommen auf uns zu gerannt und bleiben, die Hände ausgestreckt, am Wegrand stehen. Schmutzige kleine Kinder, mit verbrannter Haut und strähnigem Haar blicken mit grosser Erwartung in unsere Augen, winken uns zu und hoffen, dass wir doch ein kleines Geschenk für sie haben. Doch der Jeep fährt weiter. Die Hoffnung verlässt die Augen. Es macht uns traurig, doch wie traurig müssen dies Kinder erst sein.


Beim Namtso See beziehen wir unser Camp und begeben uns zum Ufer, wo etliche geschmückte Yaks darauf wartet, fotografiert zu werden.


Danach wandern wir die Kora (Umrundung des Heiligtums - hier ein Berg) ab und besteigen den heiligen Berg, um die Aussicht auf den Salzwassersee zu bewundern. Nach ein paar Stunden sind wir zurück beim improvisierten Dorf, wo auch wir übernachten werden. Die chinesischen Touristen mit den Tourbussen sind mittlerweile abgereist. Souvenirstände wurden geschlossen, die Yaks entschmückt.

Wir setzen uns also auf einen leeren Souvenirstand und trinken ein Bier. Schon bald stossen zwei Tibeter zu uns und stellen die üblichen Fragen. Wir offerieren ihnen was zu trinken und gemeinsam setzen wir uns auf den Boden und reden über dieses und jenes.


Bald erhalten wir vom Einen Gebetsfahnen geschenkt, der Andere holt seine Art Mandoline hervor und spielt tibetische Volkslieder für uns.


Eine Schar Kinder kommt auf uns zu. Flo verteilt Filzstifte und die Kinder beginnen sofort, sich selbst damit zu bemalen.

Ein etwa sechs jähriges Mädchen bleibt mit seinem kleinen Bruder im Hintergrund. Man merkt, dass sie sich uns nicht nähern kann, da sie offensichtlich die Aufgabe ihrer Mutter übernommen hat und auf den Kleinen aufpassen muss. Die Wangen des Mädchens sind bis aufs Blut verbrannt. Die Augen dermassen geschwollen, dass wir Ihre Pupillen kaum sehen können. Erst denken wir, sie sei blind, merken aber bald, dass sie sehen kann.


Die Schnürsenkel des rechten Schuhs des Kleinen haben sich geöffnet, er fällt ein erstes Mal. Seine Schwester hilft ihm auf die Beine. Bald darauf fällt er wieder vor sich hin und weint. Die „grosse“ Schwester“ zerrt ihn am Arm auf die Beine und tröstet ihn kurz. Flo nähert sich, überreicht beiden einen Filzstift und bindet die Schnürsenkel des Kleinen ordentlich zusammen. Der Bann zwischen dem Mädchen und Flo ist nun gebrochen. Während die anderen kleinen Kinder schon längst begonnen haben, mit Flo Fangen zu spielen, fängt nun auf das Mädchen an zu lachen und spielt mit dem Gedanken, für einen kurzen Moment seine Pflichten gegenüber seinem Bruder bei Seite zu lassen. Und sie tut es. Sie kommt zögernd auf Flo zu, genauso wie die kleineren Kinder. Flo rennt auf die Kinder zu und alle, sogar das Mädchen, suchen lachend und schreiend das Weite. Die wiederholt sich etliche Male, bis Flo den Atem wegbleibt. Immerhin befinden wir uns auf 4800 m.ü.M. Doch eine Ruhepause wird ihr nicht lange gegönnt. Die Kinder kommen immer wieder zurück. Flo rennt erneut und schnappt das Mädchen. Sie hebt sie hoch und kitzelt sie. Sie windet sich vor Freude. Der kleine Bruder hingegen, kommt auf Flo zu und will sie schlagen. Er will offensichtlich seine Schwester verteidigen. Flo setzt das Mädchen auf den Boden zurück und dieses spricht kurz mit ihrem Bruder, nimmt seine Hand und fährt damit über Flo‘s Wange, um ihm begreiflich zu machen, dass Flo es gut meint mit ihr.

Irgendwann beschliessen wir, Abendessen zu gehen. Wir verabschieden uns mit Winken von den Kindern. Die Kleinen verschwinden sofort, doch das Mädchen positioniert sich direkt vor Flo, blickt sie mit ihren halb geschlossenen Augen erwartungsvoll an und sagt „Goodbye“. Flo geht in die Hocke und nimmt die Kleine in den Arm. Sie drücken einander einander. Ein schöner, bewegender Moment. Das Mädchen dreht sich um, sagt noch einmal goodbye und gesellt sich wieder zu den anderen Kindern, wo sie sich wieder ihres Bruders annimmt und so ihrer Verpflichtung nachkommt.

Flo kommt traurig und betroffen auf mich zu, fragt mich, was sie dem Mädchen hätte geben können. Ich antworte ihr, ebenso betroffen von dem emotionsgeladenen Moment, dass sie dem Mädchen das wohl wertvollste Geschenk gemacht habe. Flo hat dem Mädchen eine kurze Zeit Kind-Sein geschenkt, persönliche Aufmerksamkeit und Lachen.


Zwei Wochen zuvor waren wir in Zhongdien, was kürzlich, um mehr Touristen anzulocken, in Shangri-La umbenannt worden ist. Dort schlenderte wir also durch die engen Gassen auf der Suche nach einem Restaurant. Plötzlich ruft uns ein junger Chinese zu:

Chinese Hey, you look happy! Where are you from?

Wir Switzerland

Chinese Ah, des suisse français.

Flo Je suis suisse romande, lui, il est suisse allemand

Chinese Das glaub ich ja nöd! Ich bi us Rappi.

Das Gelächter war gross und es stellte sich heraus, dass Sonny ein Schweiz-Tibeter ist. Er erklärte uns kurz, dass er hier ein Restaurant führe, wo er ehemalige Waisenkinder beschäftige, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. Dieses Argument liess uns sofort bei ihm einkehren, die Yak-Burger mit dem hausgemachten Brot liessen uns zu Stammgästen werden. Später erzählte er uns ein bisschen mehr von seiner Herkunft und seiner Tätigkeit in Shangri-La, vor allem erzählte er uns aber von seiner Mutter, Tendol Gyalzur. Die Kurzform davon: Sie wurde als Waisenkind aus Tibet in die Schweiz adoptiert. 1990 besuchte sie das erste Mal ihr Heimatland, Tibet. Die unzähligen Waisenkinder in den Strassen von Lhasa gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, und so beschloss sie, etwas für diese Kinder zu unternehmen. Drei Jahre später eröffnete sie ihr Waisenhaus in Toelung in der Nähe von Lhasa. Einige Zeit später errichtete sie das Waisenhaus in Shangri-La.

Die ganze Geschichte kann auf ihrer Webseite nachgelesen werden, in deutsch. www.tendol-gyalzur-tibet.ch

Ein paar Tage später beschlossen wir, das Waisenhaus zu besuchen. Sonny riet uns, am Sonntag hin zu gehen, da die Chance grösser sein wird, Kinder an zu treffen. An den Wochentagen seien sie doch meist in der Schule. Sonny's Mutter trafen wir leider nicht an, jedoch wurden wir beim Eingangstor von einer jungen Frau begrüsst und in eine kleine Küche gebracht, wo uns erst mal Tee serviert wurde. Sie gab eine kurze Erklärung über das Verbleiben von Tendol Gyazlur ab und führte uns, nachdem wir unseren Tee in grossen Schlücken geleert hatten, im Heim umher. Sie erklärte uns, dass in der Regel immer vier Kinder in einem Zimmer schlafen. Zwei Grosse und zwei Kleine. Die Grossen Kinder hätten damit die Aufgabe, auf die Kleinen im Zimmer aufzupassen. Sie führte uns durch Gänge und Spielzimmer, bis hin zu einer Turnhalle, wo sich ein Grossteil der Kinder befand. Sie stellte uns kurz vor, Licht ging an, jemand klatschte kurz und schon stürmten die Kinder auf die Bühne und stellten sich in Reih und Glied auf. Und dann sangen sie. Flo und ich hielten uns gegenseitig die Hand, wir waren ziemlich gerührt. Doch es folgte noch mehr. Erst tanzten drei Mädchen uns vor, dann kam eine Art Hip-Hop Vorführung der Jungen, danach sang ein einzelner Junge, dann wieder Tanz usw. Jedes Kind wollte noch etwas vorführen und bekam auch die Gelegenheit dazu.

Für die Kinder in Tibet können wir nicht mehr tun, als kurz mit ihnen zu spielen oder mit ihnen zu lachen. Diesen Kindern in Lhasa und in Shangri-La wird zum Glück geholfen. Die Armut in diesen Regionen ist enorm und wie immer, leiden die Kinder am meisten darunter. Diese Kinder werden in diese grosse Armut hinein geboren und haben ohne Mithilfe von aussen nicht die geringste Chance. Wir befinden uns in Krisenzeiten, obwohl wir hier in Asien gar nichts davon mitbekommen. Die Krise ist was für die Reichen. Die Armen gehen ihrer Arbeit nach, ernten den Reis. Wahrscheinlich erhalten sie bald einmal weniger Geld für ihren Reis, weil bei uns Krise ist. Unsere Krise ist hausgemacht. Sie wurde herbei geführt. Die Arroganz und Gier der Finanzleute hat uns das beschert. Hier geht es aber ums nackte Überleben, ums Überleben von Kindern. Darum hier noch einmal die Webseite:

www.tendol-gyalzur-tibet.ch


Ein paar Franken / Euro können grosses Bewirken. Schaut es Euch an. Merci.



Zum Schluss ein kleiner Film.
(Musik: Renaud)


1 Kommentar:

  1. J'peux pas; suis trop ému . . . ! C'est tellement beau de vous voir parmis ces p'tits Anges ! Merci à vous de tout coeur . . .
    dad

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